"It took a little time to get where I wanted, It took a little time to get free" (Villagers, "Courage")
Wer in den Pyrenäen wandern möchte, muss von Deutschland, Österreich oder der Schweiz aus eine relativ lange Anreise einplanen, wenn er/sie nicht fliegen möchte. Mit Bus oder Bahn solltet ihr ungefähr 24 Stunden einplanen. Von einer Anreise mit dem Auto rate ich ab.
Kurz vor neun Uhr morgens kommt der grüne Fernbus pünktlich in Bayonne an. Am Place des Basques ist direkt neben dem Office de Tourisme Endstation für den Bus. Ich steige aus und zerre meinen Rucksack aus dem Laderaum des Busses. Herzhaft gähnend strecke ich mich dann erst mal ausgiebig, um Wirbelsäule und Gliedmaßen wieder einigermaßen in ihre natürliche Form zu bringen. Überlandbusse sind ja, ähnlich wie Economy-Flüge, allgemein nicht für großzügige und komfortable Sitzplätze bekannt. Mein Hintern schmerzt vom langen Sitzen. Aber eins nach dem anderen.
Chaos in Karlsruhe
Vor fast genau 24 Stunden, am 1. Juni morgens: ich breche mit vollgepacktem Rucksack von Zuhause auf und fahre zunächst eine Stunde mit der S-Bahn nach Karlsruhe. Dort fahren am Busbahnhof hinter dem Hauptbahnhof alle Fernbusse ab, und ich warte auf eines dieser grün lackierten Exemplare, das mich fast bis zum Beginn des Pyrenäenwegs bringen soll.
Die Zustände am Busbahnhof sind chaotisch. Auf beiden Seiten der Straße sind insgesamt etwa ein Dutzend Haltestellen, jeweils mit dem Logo und Fahrplan eines Fernbus-Anbieters. Nur hält sich kein einziger der Busse daran. Reisende, die am Bussteig mit dem Logo ihres Anbieters warten, schnappen sich hektisch ihre Rollis, Koffer oder Rucksäcke und rennen zu ihrem Bus, der am Bussteig eines anderen Anbieters hält. So geht das ständig und die Busse warten kaum fünf Minuten bevor sie weiterfahren.
Gottseidank habe ich mir genug Zeit eingeplant. Ich positioniere mich so, dass ich alle Bussteige und die Zufahrt gut im Blick habe und beobachte eine Stunde lang das Gewusel. Zur geplanten Abfahrtszeit ist mein Bus noch nicht da. Ein Blick auf die App: keine Verspätungsmeldung. Gut, dann wird er wohl in wenigen Minuten da sein. Als er nach 20 Minuten Verspätung immer noch nicht erscheint, werde ich nervös. Ich rufe die Servicenummer an. Ein Mitarbeiter teilt mir freundlich mit, dass ich an der richtigen Stelle warte und dass er keine Verspätungsmeldung im System sehen könne. Aber leider sei es so, dass die Busfahrer es nicht immer ans System melden, wenn sie sich verspäten. "Toll," denke ich, "was nützt mir die App, wenn deren Funktionen nicht wie angepriesen funktionieren?"
Als mein Bus endlich an der Zufahrt erscheint, warte ich, bis er – wie erwartet – an einem Bussteig der Konkurrenz anhält und gehe dann hin. Fahrer und Beifahrer sprechen nur wenig Deutsch, aber ich erfahre, dass ich meinen Rucksack von der anderen Seite in den Laderaum stopfen muss. Endlich bin ich im Bus und finde auch gleich einen Sitzplatz.
Paris von seiner unromantischen Seite
Während der achteinhalb Stunden Fahrt hält der Bus zwar mehrmals kurz an Busbahnhöfen, aber nirgends gibt es ein Restaurant oder eine Snackbar in der Nähe. Ich habe zwar Wasser, eine Nusskernmischung und etwas Obst im Handgepäck, aber mittags ein ordentliches Sandwich und ein Kaffee wären schon schick gewesen. Erinnerung an mich selbst: das nächste Mal, ordentlich belegte Brötchen einpacken!
Mit ein wenig Verspätung kommen wir abends in Paris am Porte Maillot an, wo ich umsteigen muss. Die Weiterfahrt wird erst kurz nach 23 Uhr sein, also heißt es wieder warten. Es ist noch hell und ich bin froh, dass am Busbahnhof noch so viele anderen Fahrgäste sind. Denn so richtig Vertrauen erweckend sieht es hier nicht aus. Ich schaue mich ein wenig um, sehe jedoch nirgends eine Imbissbude. Eingepfercht zwischen der lauten Stadtautobahn mit den Abgasen, dem Kongress Center und einem Hyatt Regency Hotel, ist der Busbahnhof die städtische Einöde schlechthin. Auch hier scheinen die Firmenlogos an den Bussteigen nur symbolischen Charakter zu haben. Die Busse halten dort, wo gerade frei ist und nicht notwendigerweise dort, wo das Logo ihres Unternehmens prangt.
Heißhunger auf Herzhaftes
Eine junge Frau mit Rucksack setzt sich ein paar Meter von mir entfernt an den Zaun und beißt genüsslich in ein Sandwich, auf dessen Wickelpapier etwas auf Französisch steht. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, wo hat sie das her? Ich gehe zu ihr hin und frage sie. Es stellt sich heraus, dass sie auch aus Deutschland ist. Sie zeigt auf das graue, unscheinbare Häuschen wenige Meter entfernt. Aber da hatte ich doch vorhin geschaut und nichts gefunden. "Du musst hinter das Gebäude gehen", sagt sie, "da ist eine kleine Snackbar – aber du musst dich beeilen, um 20 Uhr macht sie zu". Mit knurrendem Magen eile ich hin und sehe nun die kleine Imbissbude, nicht größer als ein kleiner Wohnwagen. Warum zum Teufel stellen die vorne kein Schild auf, damit die Leute sehen können, dass hier ein Imbiss ist? Ich kaufe zwei Käsesandwich, ein Croissant, einen Kaffee und zwei kleine Fläschchen Wasser. Meinen Gaumen freut's: endlich wieder was Herzhaftes! Während wir unsere Snacks verdrücken, plaudern die junge Dame und ich ein wenig, sie ist auf dem Weg nach Spanien. Wenig später ist ihr Anschlussbus schon da und wir wünschen uns gegenseitig gute Weiterreise.
Als gut drei Stunden später mein Transferbus kommt, ist es bereits dunkel. Er ist pünktlich, aber auch hier das gleiche Chaos wie in Karlsruhe. Ich habe so etwas wie ein Déja-Vu: Fahrer und Beifahrer sprechen so gut wie kein… richtig geraten: Französisch! Sie sprechen nur Spanisch und sehr rudimentäres Englisch. Check-In und Verstauen des Gepäcks verlaufen planlos und hektisch. Ich hege einen vagen Verdacht, warum diese Fernbusse so günstig sind. Egal, Rucksack in den Laderaum und hinein in den Bus. Kaum haben wir die Stadt verlassen, schlafe ich auch schon ermattet ein. Während der neuneinhalb-stündigen Fahrt hält der Bus mehrere Male für Zwischenstopps, die ich nutze um mir die Beine zu vertreten und den Rücken gerade zu biegen.
Die Erlösung
Aber jetzt bin ich endlich in Bayonne (*1: sh. Update unten) und fühle mich erlöst. Der Himmel ist leicht grau und bedeckt, aber die Temperaturen sind angenehm warm. Nun bin ich also im Pays Basque, dem französischen Teil des Baskenlandes. Das Baskenland – allein der Name ruft in mir ein leises, wohliges Schauern hervor. Ob die Basken wirklich so eigensinnig sind wie erzählt wird?
Die Tourist Info ist noch geschlossen, also lasse ich mir von meinem Handy den Weg zum Bahnhof zeigen, um nach Hendaye weiterzufahren. Gut gelaunt marschiere ich mit meinem Rucksack los und komme nach gut 15 Minuten am Bahnhof von Bayonne an. Eine halbe Stunde später sitze ich im Zug, der gegen halb elf seine Endstation erreicht, den Gare de Hendaye. Nach weiteren 3,5 km Fußmarsch finde ich das Hôtel Valencia am Strand von Hendaye, das ich über das Internet gebucht hatte und wo ich die Nacht vor meiner ersten Etappe verbringen werde (*2). Als ich einchecke, ist es fast Mittag.
Akklimatisierung
Nach einem guten Mittagessen beschließe ich kurzerhand, dem Verlauf des GR10 bis außerhalb der Stadt zu folgen und auch Hendaye selbst zu erkunden, um mich zu akklimatisieren. An der Tourist Info nahe dem Alten Casino (Ancien Casino) besorge ich mir einen kleinen Stadtplan und lese den Wetterbericht für die kommenden Tage – Regenwahrscheinlichkeit hoch!
Am Startschild des GR10 am Kreisel gegenüber dem Alten Casino beginne ich meinen Verdauungsspaziergang. Die rot-weißen Markierungen führen bald entlang der Baie de Txingudi südwärts, dann quer durch die Stadt, unter den Bahngleisen durch und bis zum Ortsrand an der Rue de Pausoa. Nach einem kurzen Anstieg komme ich am Hochpunkt der Landstraße zu einem Abzweig, an dem der GR10 die Straße verlässt und links auf einer Schotterpiste weiterführt. Ein guter Punkt zum Umkehren.
Auf dem Weg zurück mache ich einen Umweg am Ostrand der Stadt entlang, am Camping des 2 Jumeaux und dem Hôpital Marin de Hendaye vorbei, bis ich wieder den fast 3 km langen Strand und die Strandpromenade in der Baie du Figuier erreiche. Unterwegs fällt mir auf, dass viele Häuser ein Fachwerk haben – meist rot, manche grün. Und das auch Eigenheime oft nicht nur eine Hausnummer, sondern auch baskische Namen an der Fassade haben. Zu diesem Zeitpunkt ist mir noch nicht bewusst, dass sich dieser Eindruck in den nächsten Tagen im Pays Basque bestätigen wird.
Zurück im Hotel gönne ich mir auf der Terrasse ein schönes, eiskaltes Bier und gehe mit Blick auf den Strand meine Notizen für die morgen anstehende erste Etappe durch. Der Strand von Hendaye ist, wie etliche Strände an der französischen Atlantikküste, ganzjährig bei Surfern beliebt. Aber heute ist das Meer zu ruhig, nur ein paar wenige Surfer schaukeln gelangweilt auf den heute eher kleinen Wellen auf und ab. Die Côte Basque – spanisch Costa Vasca – wie dieser Abschnitt der Atlantikküste heißt, erstreckt sich von Bayonne im Norden bis zum spanischen Muskiz im Westen. Sie ist Teil des Golfes von Biskaya, der sich wiederum von der Südküste der Bretagne bis zur Nordküste Spaniens erstreckt.
Den Atlantik stets im Blick, esse ich später in einem der gemütlichen Restaurants im Alten Casino zu Abend. Schade, dass der Himmel bedeckt ist, sonst hätte ich bestimmt einen schönen Sonnenuntergang sehen können. Wieder im Hotel, lege ich meine Sachen für den Morgen zurecht und gehe früh und zufrieden ins Bett.
Das fängt ja gut an
Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück runtergehe ist der Himmel stark bewölkt, aber noch ist es trocken. Während ich frühstücke, beginnt es leicht zu regnen, dumpfes Donnergrollen ist in der Ferne zu hören. Als ich auschecke, öffnen sich schließlich die Himmelsschleusen, ein ordentlicher Regenschauer setzt ein. "Das fängt ja gut an", denke ich, setze mich auf die Treppenstufen und beschließe, ein wenig zu warten und zu hoffen, dass es nachlässt. Von wegen: das gesegnete Nass wird stetig stärker, bis es am Ende schüttet wie aus Eimern.
Nach 15 Minuten Warten habe ich die Nase voll, ich kann ja nicht den ganzen Tag auf besseres Wetter warten. Gottseidank war ich bereits gestern die ersten drei km des GR10 durch die Stadt bis zum Ortsrand gelaufen und hatte sie mit meinem GPS aufgezeichnet. Von der Rezeption aus bestelle ich ein Taxi und lasse mich bis zur Schotterpiste fahren, an der ich gestern umgekehrt bin. Die Taxifahrerin meint mitleidvoll "Da haben Sie sich aber einen schönen Tag für den Start Ihrer Wanderung ausgesucht" und wünscht mir beim Aussteigen fröhlich "bon courage".
Unter dem spärlichen Schutz mehrerer kleiner Bäume ziehe ich mir hastig meinen großen, roten Regenponcho über den Kopf, ziehe die Regenhülle über den Rucksack und hieve ihn mir auf den Rücken. Flugs noch die Trekkingstöcke gegriffen und den Blick nach vorne gerichtet, sehe ich neben der Schotterpiste eine rot-weiße Markierung am Beginn eines kleinen Wäldchens. So, jetzt kann es endlich richtig losgehen.
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Updates:
*1: Im Sommer 2019 habe ich eine andere Variante für Anfahrt und Übernachtung gewählt, die mir persönlich besser gefällt. Die grünen Busse fahren inzwischen nicht nur bis Bayonne, sondern bis nach Biarritz weiter, das auch sehr schön und noch ein Stück näher an Hendaye ist.
*2: In Biarritz wiederum gibt es, nicht weit vom Gare de Biarritz, die schön gelegene und günstige Jugendherberge Auberge de Jeunesse HI Biarritz, die Mitglied im internationalen Jugendherbergsverband Hostelling International (HI) ist. Wer Mitglied im DJH (Deutsches Jugendherbergswerk) ist, übernachtet etwas günstiger als nicht-Mitglieder. Aber auch nicht-Mitglieder können dort natürlich deutlich günstiger übernachten als in einem Hotel.
Biarritz ist spätestens seit den 1950er-Jahren auch in Deutschland als mondäner Badeort bekannt. Der lange, breite Strand mit etlichen Felsformationen und Leuchttürmen, sowie die sehr schöne Architektur der alten Gebäude laden dazu ein, den Ankunftstag hier zu verbringen und am nächsten Morgen mit der Bahn nach Hendaye zu fahren.
Die Zugfahrt von Biarritz nach Hendaye dauert eine halbe Stunde. Es empfiehlt sich, nicht bis zur Endstation Gare de Hendaye zu fahren, sondern eine Station vorher in Les Deux-Jumeaux auszusteigen, einem Stadtteil von Hendaye. Von Les Deux-Jumeaux zum Startpunkt des GR10 ist es nur ein klein wenig mehr als ein Kilometer, im Gegensatz zu den knapp drei Kilometern vom Gare de Hendaye zum GR10.
Eine weitere Möglichkeit ist natürlich, per Bahn, Fernbus oder Flugzeug (Flughafen Donostia/San Sebastian in Irún!) nach Irún, der spanischen Nachbarstadt von Hendaye, zu reisen und dort zu übernachten. Je nachdem, wo ihr in Irún eine Übernachtungsmöglichkeit findet, sind es zum Start des GR10 in Hendaye ca. 5 km zu Fuß.